Späte Aufarbeitung
Als wir vom AK Justiz 2003 beginnen, uns mit der Zwangssterilisation in Mannheim zu befassen, ist das Thema nicht präsent, weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in der Gedenkkultur. Allerdings gibt es eine eindrucksvolle wissenschaftliche Arbeit von Stefan Berninger (1963-2010) bereits aus dem Jahr 1992 mit dem Titel „Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Eine Beschreibung der Praxis der Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus mit Auswertung der Quellen zu Mannheim“. Auch diese Arbeit war bis dato nicht wahrgenommen worden. Bundesweit war damals die Auseinandersetzung mit dem Thema spärlich und uns war zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Mahnmal für die Opfer der Zwangssterilisation bekannt.
Es gab jedoch Bemühungen von Betroffenen, auch die Zwangssterilisation als verbrecherischen Eingriff in die menschliche Selbstbestimmung in der öffentlichen Wahrnehmung zu verankern. Sie gehen unter anderem aus von der Arbeitsgemeinschaft Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten, einer Organisation, die sich für das Gedenken an die Opfer einsetzt und auch deren Rehabilitation durch den Bundestag erreicht hat.
Kontakt:
Zum 31.12.2009 löst sich der Verein in der Rechtsform als e.V. auf und arbeitet ab 1. 1. 2010 weiter unter dem Namen Arbeitsgemeinschaft Bund der Zwangssterilisierten und Euthanasiegeschädigten
Des Weiteren erinnert der Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation durch Publikationen und zweimal jährlich stattfindende Tagungen mit Vorträgen zum Thema an das Verbrechen der zwangsweisen Unfruchtbarmachung.
An diesen Tagungen nehmen wir als AK Justiz seit 2011 teil.
Recherche zu Mannheim und Region
Um sich einen ersten Eindruck über diesen Teil der regionalen Geschichte zu verschaffen, hat der AKJM am 24.04.03 Dr. Hans Werner Scheuing zu einem Vortrag eingeladen. Dr. Scheuing hat die Geschichte der Mosbacher Johannes-Anstalt in der NS-Zeit untersucht und ist Autor des Buches "Die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof und ihrer Bewohner 1933-1945". Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Barrierefreiheit, und der Mannheimer Abendakademie statt.
Zum Thema Erbgesundheitsgericht und Zwangssterilisation beginnen wir im Jahr 2003 im Generallandesarchiv Karlsruhe die Akten des Erbgesundheitsgerichtes Mannheim zu untersuchen. Man ging davon aus, dass es ca. 1000 Akten gibt, später stellte sich heraus, dass mehr als 1.900 Menschenaus Mannheim in die Mühle des Erbgesundheitsgerichts geraten sind.
Im Februar 2006 stellen wir die ersten Forschungsergebnisse zur Zwangssterilisation in verschiedenen Veranstaltungen vor und erzählen dabei die Geschichte einzelner Menschen aus Mannheim. Dabei richten wir den Fokus auch auf die Geschichte der Eugenik vor 1933.
Im Dezember 2006 hält eine Vertreterin des AK-Justiz einen Vortrag bei einem Symposium an der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen. Im Tagungsband von 2007 wird dieser Beitrag über das Mannheimer Erbgesundheitsgericht veröffentlicht.
Zwangssterilisation und Erbgesundheitsgericht in Mannheim
Mehr als 1900 Menschen aus Mannheim werden in der Zeit des Nationalsozialismus gegen ihren Willen und unter Androhung von Gewalt unfruchtbar gemacht. Es betrifft Menschen, die von Geburt an blind, taub, körperbehindert sind oder die angeblich an Schizophrenie oder Epilepsie leiden.
Die Scheindiagnose „moralischer Schwachsinn“ dient der sozialen Auslese und wird von den Schreibtischtätern häufig bei unangepassten oder sogenannten „asozialen“ Menschen angewendet. Grundlage der zwangsweisen Unfruchtbarmachung ist das bereits im Juli 1933 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das erste Rassegesetz des NS-Staates.
Vorgeschichte der Eugenik
Die Geschichte der Eugenik als theoretische Grundlage der Zwangssterilisation beginnt und endet nicht mit dem Nationalsozialismus. Ihre Wurzeln reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück und sind nicht auf Deutschland beschränkt. Begriffe wie „wertlos“ oder „Ballastexistenzen“ werden im wissenschaftlichen Diskurs eingeführt und gipfeln in Aussagen wie „für Geistesschwache, Hilfsschüler, Geisteskranke und Asoziale werden jährlich Millionenwerte verbraucht, die den gesunden, Familien durch Steuern aller Art entzogen werden.“
Diese Argumentation fällt auf fruchtbaren Boden. So werden in der Folge eugenische Beratungsstellen eingerichtet. 1923 wird an der Universität München der erste Lehrstuhl für Rassenhygiene mit dem Sozialdarwinisten Fritz Lenz besetzt, der auch in der NS-Zeit als führender Rassehygieniker wirkt. Der eugenische Gedanke findet sich in allen politischen Strömungen wieder.
Die Vorstellung einer besseren Gesellschaft mit ausschließlich gesunden, glücklichen Menschen ist die Grundlage der sogenannten „sozialistischen Eugenik“, die auch in den damaligen sozialistischen Kreisen weit verbreitet ist.
Dem preußischen Landtag werden mehrere Gesetzesvorschläge zur Sterilisierung aus eugenischen Gründen vorgelegt. Der letzte, 1932 eingebracht, wird zwar noch abgelehnt, stimmt aber mit dem 1933 verabschiedeten „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ faktisch überein. Die Nationalsozialisten streichen lediglich die Einwilligung der Betroffenen. Den Vordenkern der Eugenik bietet sich so endlich ein Staat an, von dem sie hoffen all ihre Vorstellungen umsetzen zu können.
Die Umsetzung des Gesetzes
Neben den Diagnosen werden im „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ weiterhin der organisatorische Ablauf wie z.B. die Antragstellung, die Arbeit der Erbgesundheitsgerichte, die Anzeigepflicht für alle, die beruflich mit den betroffenen Menschen zu tun haben, aber auch die Anwendung unmittelbaren Zwangs geregelt. Um das Verbrechen der Zwangssterilisation flächendeckend ausüben zu können, werden vom NS-Staat
- die Gesundheitsämter eingerichtet bzw. ausgebaut
- die Erbgesundheitsgerichte ins Leben gerufen
- Ärzte und Schulämter zur Meldung verpflichtet, um so eine systematische Erfassung sogenannter „Erbkranker“ zu erzielen
- durch pseudomedizinische Diagnosen wie „moralischer Schwachsinn“ das Ziel der sozialen Auslese versucht zu verschleiern
Auf dieser Grundlage bestimmt im Februar 1934 der badische Innenminister die Städtischen Krankenanstalten sowie das evangelische Diakonissenkrankenhaus und später auch das Lanz-Krankenhaus, die Unfruchtbarmachung in Mannheim umzusetzen. Dem fallen in Mannheim ca. 1900 Menschen zum Opfer. Bis zum Ende der NS-Zeit werden reichsweit ca. 400 000 Menschen unfruchtbar gemacht, etwa 5000 sterben durch den Eingriff.
Und nach 1945: Ausgrenzen der Opfer.
Kein einziger Arzt oder Richter, keine Fürsorgerin oder Lehrerin wird nach 1945 wegen der Beteiligung an der Zwangssterilisation zur Rechenschaft gezogen – sie blieben meist nahtlos in Amt und Würden. Bei der Überprüfung und den Spruchkammern wird meist nicht einmal danach gefragt.
Die Opfer dagegen leiden nicht nur unter der Zerstörung ihrer Fruchtbarkeit, sie sind auch in ihrer Menschenwürde angegriffen durch die Bezeichnung als „erblich Minderwertige“. Scham und die Tatsache, im Vergleich zu anderen Opfergruppen nicht anerkannt zu sein, begleitet sie häufig ein Leben lang. Sie werden bis 1980 aktiv und bewusst von jeglicher Wiedergutmachung ausgegrenzt und weiter verhöhnt.
Sie treffen bei ihren Bemühungen um Entschädigung oder Anerkennung oftmals auf genau dieselben Personen in den Behörden, die schon in der NS-Zeit über sie entschieden haben.
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ besteht in der Bundesrepublik weiter fort, nur die Erbgesundheitsgerichte sind geschlossen. Der Bundestag setzt das Gesetz erst 1974 außer Kraft, annulliert es aber keineswegs vollständig. Die Beschlüsse der NS-Erbgesundheitsgerichte gelten bis 1998 als rechtskräftig und legitim.
Erst 2007 ächtet der Bundestag das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Damit sind Zwangssterilisierte gesellschaftlich rehabilitiert, nachdem sie jahrzehntelang nicht als Verfolgte des NS-Regimes galten. Im Januar 2018 leben noch 103 entschädigungsberechtigte Zwangssterilisierte. Ab 1. Januar 2019 erhalten sie monatlich 415 € Entschädigung.
2009 ist zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar auf Anregung des AK-Justiz die NS-Zwangssterilisation das Thema der Gedenkveranstaltung. Die Stadt Mannheim lädt Elizabeth Campbell dazu ein.
Frau Elizabeth Campbell war als Zwölfjährige in Ludwigshafen zwangsweise unfruchtbar gemacht worden, weil ihr Vater asiatischer Herkunft war. In ihrem Grußwort wird deutlich, wie wichtig ihr die nachträgliche Anerkennung dieses an ihr begangenen Verbrechens ist.