Das Deckert-Urteil und seine Folgen
Bei der 6. Strafkammer des Landgerichts Mannheim findet im Sommer 1994 der Prozess gegen den bundesweit bekannten Neonazi Günter Deckert statt: wegen Volksverhetzung und Leugnung des Holocausts ist er angeklagt. Das milde Strafmaß und insbesondere die schriftliche Begründung durch Richter Orlet machen dieses Urteil im August 1994 zu einem Skandal mit weltweiter medialer Berichterstattung. Lediglich auf Bewährung auf ein Jahr urteilt die Strafkammer für Deckert, der schon etliche ähnliche Vorstrafen hat und zu dieser Zeit NPD-Vorsitzender ist. Die Kammer attestiert Deckert darüber hinaus Charakterstärke und Verantwortungsbewusstsein und es müsse ja auch „endlich einmal ein Schlussstrich“ gezogen werden.
Während Richter Wolfgang Müller und Richterin Elke Folkerts sich zurückhalten und aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten, versteigt sich Richter Rainer Orlet als Berichterstatter der Kammer und damit Verfasser der Urteilsbegründung in den Medien immer weiter in Rechtfertigungen und outet sich dabei als Person mit reaktionärsten Auffassungen. Mit Rückendeckung der Leitung des Amtsgerichts wird Orlet (er)krank(t). Er kommt im November 1994 wieder zurück ans Gericht. Und alles sollte so weiter gehen?
Proteste verstummen nicht - Schöffenstreik
Aber es gibt erneut Proteste mit Mahnwachen direkt vor dem Landgericht. Schließlich verweigern Schöffen mit dieser Strafkammer, die auch weiterhin in der gleichen Besetzung belassen wurde, zu Gericht zu sitzen. Andere Schöffen am Landgericht unterstützen die Schöffenverweigerung und so geht dieser erste und bisher einmalige „Schöffenstreik“ in die Geschichte ein. Schöffen können und dürfen qua gesetzlicher Bestimmung sich nicht verweigern und machten es trotzdem! In der Folge sollte dies mit Ordnungsgeld bestraft werden.
Im Dezember 1994 kassiert der Bundesgerichtshof das Deckert-Urteil und verweist es zur neuen Verhandlung nach Karlsruhe. Ergebnis: zwei Jahre Haft für Deckert.
Denkwürdiges Gedenken 50 Jahre nach Auschwitz
Am 31. Januar 1995 findet aus Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die rote Armee eine außergewöhnliche Gedenkveranstaltung in Mannheim statt. Vor dem Landgericht versammeln sich etwa 700 Menschen in völliger Ruhe und Finsternis.
Schauspieler*innen tragen Texte von Überlebenden aus den KZ sowie die Todesfuge von Paul Celan vor. Auf eine große Leinwand am Eingang zum Landgericht werden dazu Szenen aus dem Film „Nacht und Nebel“ projiziert. Am Landgericht hängen Transparente „Wider das Leugnen – wider das Vergessen“.
Dann zieht die Menschenmenge in den Bürgersaal in N1. Lea Rosh spricht zum Thema „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, der Vertreter der Neuen Richtervereinigung Fritz Endemann berichtet über NS-Sondergerichte, deren Opfer und den Kampf um deren Anerkennung.
Zu dieser Gedenkveranstaltung lädt eine Gruppe antifaschistisch gesinnter Leute ein, die sich den Namen „Arbeitskreis Justiz“ gibt. Über 40 Organisationen und Einzelpersonen unterstützen diese Gedenkveranstaltung. 1995, am 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, ist dieser Tag noch kein offizieller Holocaust-Gedenktag. In Deutschland ist der 27. Januar seit 1996 ein bundesweiter, gesetzlich verankerter Gedenktag. 2005 beschließt ihn die UNO als internationalen Gedenktag.
Aufruf zur Veranstaltung 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
Richteranklage
Richter Orlet muss sich mit einem stärker werdenden Druck auseinandersetzen. Mitglieder des AK-Justiz weisen darauf hin, dass die Landesverfassung von Baden-Württemberg die sogenannte Richteranklage vorsieht. Nach etlichen Gutachten soll auf Antrag der SPD im Landtag die Richteranklage zur Beschlussfassung kommen. Ein Tag vor der Abstimmung am 11. Mai 1995 beantragt Orlet selbst seine krankheitsbedingte vorzeitige Pensionierung. Noch am gleichen Tag stimmt der Landesjustizminister Stefan Schäuble dem Antrag zu. Damit fällt die Schlussklappe dieses schäbigen Schauspiels.
Was bleibt ist der gestärkte Wille von einigen Antifaschist*innen, die sich im AK-Justiz zusammengefunden haben, sich intensiver mit der NS-Justiz auseinanderzusetzen. Vier Mitglieder des AK-Justiz forschen seit Herbst 1995 ehrenamtlich und neben ihrem Beruf im Generallandesarchiv in Karlsruhe.