„Furchtbare Juristen” – Todesurteile des Sondergerichts
Das Anliegen des Arbeitskreises Justiz war und ist es, die Opfer der NS-Justiz noch einmal zu Wort kommen zu lassen. Wir wollen sie persönlich, moralisch und öffentlich rehabilitieren. Die Schreibtisch-Täter in der Justiz vor Ort sollen nicht weiter verschwiegen werden. Mit der Regisseurin Eva Martin-Schneider stellten wir eine bewegende szenische Lesung aus Prozess-Akten des NS-Sondergerichts und den Spruchkammerverfahren der beteiligten Juristen zusammen.
Bei der szenischen Lesung wirken neben Freunden und Mitgliedern des AK-Justiz auch bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler aus Mannheim mit. Sie wird im November 1998 im Westflügel des Schlosses, im großen Hörsaal der juristischen Fakultät mit Unterstützung der Fachschaft Jura uraufgeführt und noch weitere sechs Mal in der Region gespielt.
Die Geschichte hinter dem Dokumentarstück
Im ersten Teil wird ein Prozess gegen zwei Prostituierte aus der Neckarstadt rekonstruiert. Im zweiten Teil des Stückes geht es um die involvierten Richter und ihre Strategie, nach 1945 die Verantwortung von sich zu weisen
Die Geschehnisse im April 1943
Die heutige Lupinenstraße im Mannheimer Stadtteil Neckarstadt war schon in der Zeit des Nationalsozialismus eine Bordellgasse. Sie hieß damals Gutemannstraße und das Geschäft ging auch während des Krieges noch gut. Bei dem Bombenangriff auf Mannheim Mitte April 1943 wird die Gutemannstraße schwer getroffen. In Mitleidenschaft gezogen ist Nr. 14, in der Rosa E. ein Bordell gepachtet hat. Sie wohnt dort zusammen mit Margarethe S., weitere fünf Frauen arbeiten in dem Haus. Rosa und Margarethe sind durch ihre Männer ins Milieu geraten und nach geschiedener Ehe gezwungen, den Unterhalt für sich und ihre jeweils zweijährigen Söhne durch Prostitution zu verdienen.
Total in Trümmern liegt das Nachbarhaus Nr.12, ebenfalls ein Bordell. Es wird im Auftrag des Besitzers durch zwei Helfer soweit es geht ausgeräumt. Aus dem brennenden Keller schleppen die Männer körbeweise Weinflaschen. Als die Einsturzgefahr zu groß wird, stellen sie die Arbeiten ein.
Einige Flaschen geben sie an eine Gruppe von Prostituierten der Nachbarschaft heraus und genehmigen sich dann alle zusammen einige Gläser. Rosa feiert schließlich ihren 30. Geburtstag.
Tags darauf gehen Rosa und Margarethe in ihren eigenen Keller, von dem aus sie in den teilweise eingestürzten Nachbarkeller gelangen, wo zwischen der Glut noch einige Flaschen, Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände liegen. Sie bergen diese Sachen und bringen sie in die Küche, die für alle Frauen und Gäste offen zugänglich ist. Sie sind ohne jedes Schuldbewusstsein, dass dies als Diebstahl oder gar als „Plünderung“ angesehen werden könnte. Die 10 Flaschen Wein, die Gemüsedosen, Zwiebeln, das Öl und die zwei Großpackungen Präservative sind schnell verbraucht.
Die Anzeige
Auch den ausgebombten Bordellbesitzer, der jetzt drei Häuser weiter wohnt, kümmert es zunächst nicht. Es ist nicht ganz klar, wer oder welche Umstände ihn dazu bewogen, über drei Monate später einen Denunziationsbrief an die Staatsanwaltschaft zu schreiben: „Es ist wohl bitter und hart genug, wenn man bei einem solchen Unglück Hab und Gut, seine Sachwerte mit dem Haus im Wert von über 90.000 RM verlieren muss, und wird von solchen Parasiten auch noch um das Letzte möchte man sagen beraubt.“ Er führt eine Liste von lächerlichen Kleinigkeiten auf, darunter sogar alte Bettvorleger zum Abdecken der Waren.
Aufgrund der Anzeige werden die beiden Frauen am 7. August festgenommen. Zunächst bestreiten sie alle Vorwürfe, aber einige der Besitztümer des Nachbars, z.B. eine Gummischürze, sind ganz offensichtlich bei Rosa E. gefunden worden. Sie gibt nach wiederholten Verhören zu: „Die Präservative wurden inzwischen verbraucht und ich habe diese an die Mädchen unentgeltlich abgegeben“.
Die Kriminalpolizei arbeitet mit ständigen Gegenüberstellungen von Aussagen aller möglicher Mitkonsumenten, Dirnen und Freiern. Bis hin nach Straßburg wird ermittelt. Auch die beiden Männer beschuldigt man der „Beihilfe zur Plünderung“ und der „Hehlerei“. Ein Rechtsanwalt ist nicht eingeschaltet. Auf 200 Seiten Vernehmungsprotokolle ist die Ermittlungsakte nach vier Wochen angeschwollen.
Der Prozess
Am 1.10.43 schreibt Rosa E. an den Staatsanwalt: „Befinde mich seit 2 Monaten hier in Einzelhaft. Möchte hiermit höflichst anfragen, ob ich einen Besuch empfangen darf“. Sie darf nicht. Denn auf Frauen aus dem Gewerbe ist der NS-Staat nicht gut zu sprechen. Und außerdem soll an den Beiden ein Exempel statuiert werden. Nach den verheerenden Luftangriffen im August und September droht nämlich auch die innere Front zusammenzubrechen. Über 80 000 Menschen sind obdachlos. In Mannheim organisiert die NSDAP Durchhaltekundgebungen. Der Staat muss beweisen, dass er alles noch fest im Griff hat, besonders auch den inneren „Feind“. Dazu lässt er die „Panzertruppe der Rechtspflege“ auffahren: das Sondergericht, ein Terrorinstrument der NS-Justiz, das allen dort Angeklagten den buchstäblich „kurzen Prozess“ macht. Seine Urteile werden sofort rechtskräftig, es gibt keine weitere Instanz. Sogenannte „Volksschädlinge“ sollen aus der deutschen „Volksgemeinschaft ausgemerzt“ werden, zur Abschreckung und weil es das „gesunde Volksempfinden gebietet“.
Anfang November 1943 erhebt Staatsanwalt Hermann Schmitz die Anklage vor dem Sondergericht. Erst jetzt werden Pflichtverteidiger bestellt, die Rechtsanwälte Groß und Dr. Zoepffel. Die Hauptverhandlung findet am 15.11.43 im Schloss, Schöffensaal 2 des Landgerichts (heute vom Amtsgericht genutzt) statt. Unter Vorsitz von Dr. Hermann Spiegel, mit den Beisitzern Dr. Mohr und Kurt Bothe dauert die Verhandlung zwei Stunden. Die zuvor beschuldigten Männer werden jetzt als Zeugen der Anklage benannt, das Verfahren gegen sie wurde mangels Beweisen eingestellt. Der eine habe „wegen eines Augenleidens“ nicht sehen können, wer etwas genommen hat, der andere sei von den Frauen bedrängt worden.
Das Urteil
Doch das Urteil steht längst fest: Wegen „Plünderung“ nach §1 der Volksschädlingsverordnung werden Rosa und Margarethe zum Tode verurteilt, exakt wegen „2 Groß Präservative, 2 Schürzen, 1 Fl. Maschinenöl. 2 Kanister Leinöl. 6-8 Pfd. Zwiebeln, 2 Dosen Gurken, 15 Dosen Gemüse, 10 Bündel Holz, 10-15 Flaschen Wein“.
Nichts lassen die Richter zur Entlastung der beiden Frauen gelten. Nicht die Tatsache, dass sie beide nicht vorbestraft sind, dass sie selbst fliegergeschädigt waren, und dass sie beide ihre Kleinkinder allein versorgen. Gehässig rechnen die Richter den Frauen sogar den Wert des „fremden Guts“ vor:
„Wenn die E. weiter vortragen lässt, sie habe keinen Eigennutz gehabt, weil sie die Präservative verschenkt und von den anderen Sachen auch nichts gehabt habe, so ist auch das nicht richtig. Sie hatte mindestens vorübergehend den Besitz der Sachen."
Die Richter, alle NSDAP-Mitglieder, begründen mit kategorischen Sätzen auf nur acht Seiten die Todesurteile: „Wer sich in solcher Weise an Hab und Gut der geschädigten Volksgenossen vergeht, stellt sich außerhalb der Volksgemeinschaft. Nicht umsonst hat der Gesetzgeber für Plünderung die Todesstrafe angedroht. Nicht umsonst sind in Mannheim allenthalben Plakate angebracht mit der Aufschrift „Plünderer werden mit dem Tode bestraft“.
Auch die S. hatte einen Vorteil von der Tat, denn sie hat mindestens von dem Wein mitgetrunken. Es handelt sich auch nicht um geringe Mengen von unbedeutendem Wert wie die Angeklagten vortragen ließen. Die Präservative haben nach ihren eigenen Angaben einen Verkaufswert von 80 Pfg. 3 Stück, also hat die gestohlene Menge einen Wert von rund 150,- RM...“
Die Rechtsanwälte stellen Gnadengesuche. Im April sei die Schärfe des Begriffs „Plünderung“ noch gar nicht allgemein bekannt gewesen. Rosas Schwester und Frauen aus der Gutemannstraße flehen im Namen der Kinder um Gnade.
Doch erbarmungslos lehnt der Reichsjustizminister die Gesuche ab. Rosa und Margarethe werden am 22. Dezember 1943 in Stuttgart um 5.12 Uhr mit dem Fallbeil hingerichtet. Die Leichen werden der Anatomie Heidelberg zu Forschungszwecken übergeben. Rosas Schwester kann sie nicht beerdigen, sie erhält statt einer Urne nur die Kleider ihrer Schwester.
Ganz pietätvoll gibt sich dagegen Staatsanwalt Schmitz: „Im Hinblick auf das bevorstehende Weihnachtsfest“, schreibt er in einer Aktennotiz, „wurde meinerseits vorgetragen, dass eine öffentliche Bekanntmachung durch Maueranschlag - doppelt auffällig in den Trümmern der Stadt - wenig wünschenswert sei und besser unterbliebe, mindestens aber bis nach dem Fest zurückgestellt werden sollte.“
Die Juristen nach 1945
Im zweiten Teil des Stückes geht es um die involvierten Richter und den Staatsanwalt und deren Strategie, nach 1945 die Verantwortung von sich zu weisen.
- Staatsanwalt Hermann Schmitz, geb. 1896, als Vertreter der Anklage an 42 Todesurteilen beteiligt, blieb nach dem Krieg weiter Landgerichtsdirektor in Mannheim und war als Vorstandsmitglied des evangelischen Diakonissenmutterhauses aktiv.
- Dr. Hermann Spiegel, geb. 1881, an 19 Todesurteilen als Vorsitzender beteiligt, gleichzeitig Direktor des Arbeitsgerichts, bezog seine Pension.
- Dr. Hans Mohr, geb. 1895, an 12 Todesurteilen des Mannheimer Sondergerichts beteiligt, blieb nach dem Krieg als Oberamtsrichter in Weinheim tätig.
- Landgerichtsrat Kurt Bothe, geb. 1906, war an 24 Todesurteilen beteiligt. Er ist nach dem Krieg nicht mehr als Richter tätig.
2015 „Verpflichtung der Universität“
Etwa 400 Besucher*innen waren am 18. Mai 2015 bei der Aufführung des Dokumentarstücks über die Todesurteile des Mannheimer Sondergerichts in der Aula der Universität. Die Aufführung wurde organisiert vom Rektorat der Universität und dem AK-Justiz mit finanzieller Unterstützung durch Absolventum. Wenige Wochen zuvor war das Stück im Landgericht Heidelberg im Rahmen der Ausstellung zu Fritz Bauer aufgeführt worden.
Für die Aufführung des Stückes in der großen Aula der Universität hatte sich Prof. Dr. Thomas Puhl, Rechtswissenschaftler und damals Prorektor der Universität, spontan stark eingesetzt, nachdem er die restlos ausverkaufte Vorstellung im Landgericht Heidelberg gesehen hatte. Er sagte:
„Die Geschehnisse damals sind uns heute räumlich so nah. Wir bilden junge Juristen in den Räumen aus, in denen verheerendes Unrecht gesprochen wurde. Die Universität ist insofern Erbe dieser Vergangenheit und damit verpflichtet, sich mit dem Unrecht auseinander zu setzen und die Erinnerung daran wach zu halten.“
Von der Veranstaltung in der Aula der Uni Mannheim gibt es einen Mitschnitt als DVD, die Prof. Puhl in seiner Lehrveranstaltung einsetzt.